Jetzt ist die KI-Auslegeordnung mitsamt Bundesratsentscheid zwar da – aber die Menschen in der Schweiz bleiben auf Jahre ungeschützt. Der Bundesrat nimmt seine Aufgabe nicht ernst, schreibt Kolumnist Reto Vogt.
Der Bundesrat macht auch bei der KI-Regulierung, was er am liebsten tut: abwarten, beobachten, hinauszögern. Sein Entscheid vom Mittwoch zeigt vor allem drei Dinge: Erstens seine Wirtschaftsfreundlichkeit. Zweitens seine Unentschlossenheit. Und drittens, dass er beim Thema Künstliche Intelligenz nicht wirklich verstanden hat, worum es wirklich geht: um Tempo.
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ToggleDer Entscheid, nichts zu entscheiden
Was ist passiert? Der Bundesrat hat entschieden, die KI-Konvention des Europarats ins Schweizer Recht zu übernehmen. Gesetzesanpassungen sollen möglichst sektorbezogen erfolgen, allgemeine Regulierungen wird es kaum geben. Statt klare Regeln zu setzen, setzt der Bundesrat lieber auf «rechtlich nicht verbindliche Massnahmen» – also auf freiwillige Selbstregulierung. Immerhin kommunizierte er dies öffentlich via Medienmitteilung, statt wie letzte Woche von mir kritisiert ausschliesslich über einen geschlossenen Mailverteiler.
Der Bundesrat täuscht mit seinen «Entscheiden» zwar Entschlossenheit vor, macht aber in Wirklichkeit das genaue Gegenteil: Er verschiebt die eigentliche Debatte auf später. Die Vernehmlassungsvorlage zu möglichen Gesetzesänderungen steht frühestens Ende 2026 – bis das entsprechende Gesetz da ist, dauert es nochmal mindestens zwei Jahre. Selbst wenn sich der Bundesrat irgendwann doch noch für echte Regeln entscheidet, wird es frühestens 2029 bis sie in Kraft sind.
Regulierung schafft Innovation – nicht umgekehrt
Die Realität ist also: Der Bundesrat hat nichts entschieden, sondern sich bloss um eine Entscheidung gedrückt. Er sichert sich Zeit, um weiter zu beobachten, was die anderen tun – anstatt selbst aktiv zu werden. Zeit, die die Schweiz nicht hat. Mindestens vier Jahre bis zum fertigen Gesetz sind im KI-Zeitalter eine Ewigkeit. Einerseits, weil die EU schon eine verbindliche Regulierung kennt, andererseits weil die KI-Anbieter fast im Wochentakt neue Modelle auf den Markt werfen.
Der Bundesrat glaubt mit seiner Verzögerungstaktik, wirtschaftsfreundlich zu handeln. Doch Regulierung ist nicht ein Verhinderer von Innovation, sondern ihre Voraussetzung. Und sie kann Standards setzen, die sicherstellen, dass neue KI-Technologien nicht nur leistungsfähig, sondern auch vertrauenswürdig und fair sind. Unternehmen brauchen Planungssicherheit, Investoren verlangen klare rechtliche Rahmenbedingungen und Startups können sich nur dann gegen Tech-Giganten behaupten, wenn es faire Wettbewerbsbedingungen für alle gibt. Wo gibt’s das? In der Schweiz auf absehbare Zeit jedenfalls nicht.
Die Schweiz bleibt ein KI-Experimentierfeld
Dass es einfach ist, Künstliche Intelligenz so zu regulieren, dass sie genau dies ermöglicht, behauptet niemand. Aber das ist kein Grund, es nicht zu versuchen und stattdessen einfach abzuwarten.
Dank des AI Acts ist die Schweiz kein rechtsfreier Raum, was Künstliche Intelligenz angeht. Denn Unternehmen, die auch ausserhalb der Landesgrenzen «geschäften», müssen sich daran halten. Doch das hat zwei grosse Haken: Erstens betrifft die EU-Regulierung die öffentliche Hand nicht, da diese nur im Landesinneren tätig ist. Behörden, die mit KI arbeiten und Schweizer Personendaten verarbeiten, sind von den EU-Vorgaben entsprechend nicht betroffen.
Wer schützt die Bürgerinnen und Bürger?
Zweitens fehlt der Schweiz ohne eigene Regulierung die Handhabe, um Bürgerinnen und Bürger vor Diskriminierung oder missbräuchlichem KI-Einsatz zu schützen. Ob im Bewerbungsprozess, bei Kreditvergaben oder einfach «nur» durch voreingenommene Daten: Ohne klare Regeln bleibt es Unternehmen selbst überlassen, ob und wie sie ihre KI-Systeme auf Fairness und Transparenz prüfen. Der Bundesrat überlässt damit den Schutz der Menschen in der Schweiz dem Zufall – oder besser gesagt: den Geschäftsinteressen der Tech-Konzerne.
Ich möchte einen unkonventionellen Vergleich wagen: In der Pharmaindustrie ist Regulierung zu Recht unumstritten. Es wäre viel zu gefährlich, wenn Roche und Novartis neue Medikamente ohne kontrollierten Zulassungsprozess im Markt «testen» dürften. Aber genau dies ist bei Künstlicher Intelligenz möglich: OpenAI, Google oder Deepseek dürfen neue Sprachmodelle unkontrolliert auf die Bürgerinnen und Bürger loslassen. Und wer glaubt, das sei nicht gefährlich: Nun, Gemini wünschte einem Mann den Tod.
KI-Konvention ist ein verwässerter Rechtsrahmen
Inhaltliche Kritik an der bundesrätlichen Kommunikation bringt meines Erachtens wenig bis nichts, da eben wenig bis nichts feststeht. Böse formuliert ist sie das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben ist. Die einzig konkrete Äusserung zur Übernahme der KI-Konvention des Europarats «hat nur noch wenig mit europäischen Werten zu tun», schrieb das Online-Magazin Republik in einer Recherche. Kollegin Adrienne Fichter bezeichnete es auf Linkedin als «verwässerter globaler Rechtsrahmen, der keinerlei Vorgaben für den privaten Sektor macht».
Zusammengefasst versteckt sich der Bundesrat hinter Floskeln, statt Verantwortung zu übernehmen. Die Leidtragenden sind die Bürgerinnen und Bürger, die keinerlei Schutz geniessen, und Unternehmen und Organisationen, denen ein verbindlicher Rechtsrahmen fehlt. In einem globalen Wettrennen ist Warten keine Strategie – es ist eine Kapitulation.