Gaia-X hätte die europäische Antwort auf die amerikanischen Big-Tech-Konzerne sein sollen. Für namhafte Kritiker ist die von Europa geförderte Initiative aber gescheitert. Die berechtigte Kritik an der Umsetzung tut der ursprünglichen Grundidee aber unrecht. Gaia-X steht für einen europäischen und einen radikal neuen Weg der Digitalisierung. Befürworter versuchen damit auch Einfluss auf die Schweizer Digitalpolitik zu nehmen, etwa bei der Swiss Government Cloud-Beschaffung. Teil I der zweiteiligen Gaia-X-Rechercheserie.
Das Timing wäre jetzt gerade gut. Mit den neuen, alten Machthabern in West und Ost: Trump, Putin, Xi.
Gerade jetzt, wo ein neuer erratischer US-Präsident nochmals auf „America First“ setzt und der chinesisch-amerikanische Handelskrieg zusätzlich angeheizt werden könnte.
Jetzt, wo die amerikanischen Hyperscaler noch enger an die US-Regierung gebunden mit allerlei Militärprojekten und ihnen von der Trump-Administration kaum mehr regulatorische Schranken auferlegt werden.
Und jetzt, wo sich sämtliche europäische Regierungen überlegen müssen, ob sie nun eine definitive Partnerschaft mit amerikanischen Hyperscalern eingehen, aus deren „Lock-ins“ sie nur mit riesigen finanziellen Anstrengungen je wieder herauskommen können.
Gerade auch nach dem vernichtenden Bericht von Mario Draghi über die fehlende digitale Wettbewerbsfähigkeit Europas.
Gerade jetzt müsste eine europäische Technologieinitiative wie Gaia-X zum Fliegen kommen.
Doch: Gestartet als deutsch-französisches Leuchtturmprojekt 2019 reden europäische Spitzenpolitikerinnen 5 Jahre lieber nicht mehr davon.
„Gaia-… was?“, wird sich auch die DNIP.ch-Leserin oder -Leser fragen. Und genau hier liegt das Problem. Nicht einmal ein digitalaffines Publikum scheint das Vorzeigeprojekt von Europa zu kennen.
Auch der abtretende Bundeskanzler Olaf Scholz erwähnte es nicht mehr in seinen öffentlichen Reden. Stattdessen liest man immer wieder von internen Querelen, mühsamen Sitzungen mit Big-Tech-Mitarbeiterinnen, die diese mit Detailfragen überfrachten und von gestrichenen Fördergeldern. Das letzte öffentlich dokumentierte Meeting in Brüssel mit der EU-Kommission stammt von 2021. Und ein bekannter niederländischer IT-Blogger fordert einen sofortigen Investitions- und Beschäftigungsstopp mit Gaia-X, weil „es eine grosse Ablenkung“ sei.
Das Wichtigste in Kürze: Gaia-X wurde 2019 als europäische Antwort auf die Dominanz der amerikanischen und chinesischen Tech-Giganten ins Leben gerufen, um Europas digitale Souveränität zu sichern. Doch das Projekt, das offene und sichere Datenräume schaffen will, kämpfte lange mit internen Konflikten, einer unklaren Ausrichtung und der Einflussnahme grosser US-Big-Tech-Unternehmen, welche Entscheidungen verzögerten und eigene Interessen verfolgten. Statt eines europäischen Hyperscalers — wie sich dies einige beteiligte Mitglieder der ersten Stunde gewünscht haben — sind nun Konzepte und Standards rund um Datenräume für die europäische Industrie entstanden. Die Befürworter wollen damit politisch-technische Werte wie Transparenz, Interoperabilität und Dezentralität in eine digitale Infrastruktur übersetzen, sowie eine Datenökonomie für die europäische Industrie etablieren.
Wer sich aber mit Gaia-X vertieft beschäftigt, stellt fest: Trotz der immer wiederkehrenden und auch berechtigten Kritik trägt die Initiative die ersten Früchte und verspricht einen neuen europäischen, nachhaltigen Weg der Digitalisierung, der an die Ursprünge des Internets erinnert: offen, transparent, dezentral, selbstbestimmt.
Die Kernidee von Gaia-X ist eine stille Revolution; und kommt — auch für die Open Source-Befürworter in der Schweiz — zur rechten Zeit: Genau jetzt, wo der Bund eine eigene Datenwirtschaft ankurbeln will und die „Swiss Government Cloud“ bauen möchte. Open Source-Befürworter wittern die grosse Chance, die Standards von Gaia-X – statt amerikanische Normen – in die Ausschreibung fliessen zu lassen.
Doch worum geht es bei Gaia-X eigentlich?
Inhalte
ToggleFür die einen eine Cloud, für die anderen Daten(t)räume
Je nachdem mit wem man spricht, erhält man eine unterschiedliche Antwort auf diese Frage: Gaia-X meint die Schaffung von Datenräumen, sagen die einen. Gemeint sind damit vereinfacht gesagt flexible und offene IT-Strukturen, die den vertrauensvollen und transparenten Austausch von Daten zwischen verschiedenen Akteuren in einer bestimmten Branche ermöglichen, wobei die Souveränität und Kontrolle über die eigenen Daten stets gewährleistet bleibt.
Gaia-X hätte eigentlich die europäische Cloud für europäische Unternehmen werden sollen, argwöhnen die anderen.
Und für Dritte wäre es ein europäisches KI-Modell geworden.
Yann Lechelle als ehemaliger Scaleway-CEO auch Gaia-X-Mitglied der Stunde 1, sieht in dieser Uneinigkeit die Wurzel des Problems: „Gaia-X war sozusagen ‘lost in translation’.“
Dabei haben alle Seiten ein bisschen recht, was auch mit der Geschichte des Projekts zusammenhängt. Denn: Das Framing hat sich über die Jahre gewandelt oder der Fokus verschoben, wie Gaia-X-Vertreter öffentlich einräumen. Oder wie es Nextcloud-Chef Frank Karlitschek gegenüber DNIP.ch spitz formuliert: „Man hat die Vergangenheit jetzt einfach etwas umdefiniert“.
Die Vergangenheit, das war ein Treffen von zwei Spitzenpolitikern vor fünf Jahren: Der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier und sein französischer Amtskollege Bruno LeMaire kündigten 2019 die europäische Antwort auf die Übermacht der amerikanischen Big-Tech-Konzerne an. Und egal mit wem man spricht: Erwartet wurde dabei eine Art „KI-Airbus“. Also die Analogie zur europäischen technologischen Reaktion im Jahr 2000 auf die damals dominante amerikanische Boeing, einfach in Sachen digitale Technologien.
Europa wollte 2019 also europäische IT-Champions schaffen, um beim Big-Data-Boom mitzuhalten. Und dafür braucht es leistungsfähige Rechenzentren, die hochperformant arbeiten aber auch europäisches Recht einhalten. Doch was ist eine europakonforme IT-Infrastruktur und welche Standards und Werte sollen hierfür gelten?
Genau dafür wurde eben die Initiative Gaia-X ins Leben gerufen.
Unternehmen, Informatiker:innen oder auch zivilgesellschaftliche Aktivist:innen sollen technische Standards zu europäische Werten definieren. Dabei geht es um Transparenz, Datenschutz und Interoperabilität. Heute sind über 300 Unternehmen und Institutionen aus Wissenschaft und Wirtschaft aus 17 Mitgliedsstaaten angeschlossen. Finanziell unterstützt wurde das Projekt zuerst mehrheitlich durch die deutsche Regierung mit 117 Millionen Euro. Die EU und die EU-Mitgliedsstaaten haben rund 2,3 Milliarden Euro bisher investiert. Das Total der Ausgaben ist wegen des dezentralen Charakters des Projekts schwierig zu beziffern.
Doch unter einem KI-Airbus und unter Europas IT-Champions verstand offenbar jeder etwas Anderes. Hochrangige Politiker machten den Fehler, nicht genauer zu erklären, was sie konkret von den Projektteilnehmern erwarteten. Das Erwartungsmanagement war nicht mehr handlebar, räumen heute auch deutsche Gaia-X-Vertreter im Gespräch mit DNIP.ch ein.
Und so nahm das PR-Desaster seinen Lauf.
Der kurze harmonische Moment der beschworenen europäischen Einigkeit von 2019 war bald vorbei. Die Situation eskalierte nämlich schon bald, als Google, Microsoft, Amazon sich im November 2020 plötzlich als Gründungsmitglieder der Gaia-X-Stiftung hinzugesellten.
Später arbeiteten die CIA-Firma Palantir und der chinesische IT-Riese Alibaba in den technischen Arbeitsgruppen mit. Eine komplette Farce für viele europäische Gründungsmitglieder der ersten Stunde, den sogenannten Day 1 Members wie etwa Nextcloud. Hinter vorgehaltener Hand kritisierten Gründungsmitglieder aus Frankreich gegenüber DNIP.ch: Die Deutschen haben keine Berührungsängste mit den amerikanischen Hyperscalern.
Trojaner nach Europa geholt
Einige europäische Teilnehmer verliessen daraufhin mit Fanfare den Verein Gaia-X, wie etwa der ehemalige Scaleway-CEO Yann Lechelle, der mitten in einer französischen TV-Sendung den Austritt verkündete. EU-Fördergelder in amerikanische und asiatische Technik einfliessen lassen? Pas avec nous! „Nicht-europäische Unternehmen sollen bei solchen europäischen Wertediskussionen einfach draussen bleiben“, fordert Lechelle.
Mit Amazon & Co. hätten die Europäer sich wissentlich und sehenden Auges einen Trojaner hereingeholt, lautete der Vorwurf. Wer die Sitzung mit technischen Detailfragen überfrachtet, mache sowas gezielt, sagen mehrere Insider gegenüber DNIP.ch. „Die Lobbyisten brachen über das Projekt herein“, erinnert sich auch der Deutsche Frank Karlitschek. „Wir von Nextcloud haben keine Kapazitäten und Personal, das mal schnell 1000 Seiten Dokumente vor einer Sitzung durchliest.“ Dasselbe Zitat wiederholte fast wortwörtlich der Franzose Yann Lechelle.
Im Grunde genommen zog sich die Politik zu früh aus Gaia-X zurück, so dass die Debatte nur noch von Technokraten geführt worden war. „Und wenn dann viel Geld auf dem Tisch liegt, sind dann plötzlich ganz viele Unternehmen da, die mitmachen wollen.“
Falsche Anreize bemängelt auch der Niederländer Bert Hubert gegenüber DNIP.ch. Er ist Informatiker, Aktivist und Journalist, der die Entwicklungen zu Gaia-X schon seit Jahren sehr kritisch beobachtet und sehr gut vernetzt ist in der europäischen Digitalszene. „Die Leute von Gaia-X werden dafür bezahlt um nerdige Dinge auszuhecken und haben keinen Druck, Resultate zu erzielen“. Jeder ausgegebene Euro in Gaia-X ist für ihn Geldverschwendung. Deshalb forderte er einen sofortigen Investitionsstopp. Weitere Kritiker sagen gegenüber DNIP.ch: 5 Jahre Diskussion für den richtigen API-Standard — das konnte man vielleicht noch vor 10 Jahren machen, aber nicht heute, wenn die Zeit drängt.
Infobox: Digitale Souveränität
Spätestens im Jahr 2024 weiss Europa nun, dass Alternativlosigkeit einfach keine erstrebenswerte Leitmaxime ist, egal ob es um russisches Gas oder amerikanische Software geht. Europa hat 2024 den Wert von digitaler Souveränität erkannt — und versucht diesen in konkrete Technik zu übersetzen. Unter dem Begriff ist nicht etwa Autarkie (also die Idee, dass die gesamte Technik in Europa hergestellt werden soll) zu verstehen, sondern Gestaltungsfreiheit und Autonomie gemeint. Verwaltungen und Regierungen müssen wählen, wo man Abhängigkeiten eingehen will und wo man sie vermeiden kann.
Rechtlich sind den Kunden meist enge Grenzen gesetzt: Auch die vorteilhaftesten Verträge mit den amerikanischen Hyperscalern werden den Kontrollverlust über die eigenen Daten nicht wettmachen. Die amerikanischen Überwachungsgesetze lassen sich nicht wegverhandeln. Auch wenn viele amerikanische Big-Tech-Unternehmen und auch europäische Verwaltungen oft „Souveränitätswashing“ betreiben und behaupten, dass die Daten bei europäischen Rechenzentren von Amazon & Co auf europäischen Boden bleiben (EU-Datengrenze) und kaum jemals in die USA fliessen („data at transit“), was kein Hyperscaler 100 % ausschliessen kann.
Echte digitale Souveränität lässt sich demnach in the long run nur technisch umsetzen. Gemeint ist damit die Nutzung und Umsetzung offener Standards, um Abhängigkeiten von einzelnen Anbietern zu reduzieren und die Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen zu gewährleisten. Sowie auch die Einhaltung von Datenschutzstandards und die Kontrolle darüber, dass die Daten auch auf nationalem Boden verbleiben.
Karlitschek, Lechelle und Hubert sind sich daher einig: Hyperscaler haben vor allem ein Interesse daran, dass sich nichts am heutigen Zustand ändert. Warum sollte Amazon eine Veränderung des Status Quo wollen? Hubert ist überzeugt, dass viele Politiker:innen Europas insgeheim Gaia-X aufgegeben haben: „Ich glaube die europäischen Regierungen stoppen Gaia-X bewusst nicht, damit man am Schluss sagen kann: Seht, Europa kann es nicht, wir müssen mit Microsoft zusammenarbeiten“.
Die Gaia-X-Verantwortlichen kennen diese vielen negativen Kommentare — und verteidigen die Beteiligung der Hyperscaler stets in den Medien sinngemäss: Wir müssen für unterschiedliche Anforderungen und Bedürfnisse nun mal alle Technologien in petto haben. Dafür definiert man auch solche Standards. Amerikanische Unternehmen, die sich europäischen Werten verpflichten möchten, sollen also auch involviert werden.
Die Idee von Gaia-X ist also, sich gemäss einem Katalog die passende Cloud oder das passende KI-Modell quasi selbst „zusammenklicken“ zu können. Wenn also eine Firma den höchsten Level 3 anfordert, kriegt sie auch nur europäische Provider vorgeschlagen (die auch weitere strikte Kriterien bezüglich Datenschutz einhalten müssen). Für andere Bedürfnisse kämen theoretisch auch Big-Tech-Unternehmen in Frage.
Europäischer Weg: Datenräume schaffen
Doch auch wenn die amerikanischen und chinesischen Big-Tech-Konzerne aufrichtig und ernsthaft mitarbeiten würden, verfolgen sie auch eigene kommerzielle Interessen. Der europäische Cloud-Markt ist heftig umkämpft, die europäischen Anbieter machen gerade mal 13 % aus. In Brüssel geben Big-Tech-Konzerne (inklusive Meta und Apple) gemäss der Organisation Lobbycontrol 33,5 Millionen Euro für das Lobbying aus, hauptsächlich um eine strenge Regulierung von Technologien wie Künstlicher Intelligenz zu verhindern, wie aktuell die Umsetzungsdebatten des AI Acts zeigen. Und als Lobbyorganisationen tarnen sie sich geschickt mit „Europa“-Branding: Amazon gehört zu CISPE „Cloud Infrastructure Service Providers in Europe“, Google zur neuen „European Cloud Coalition“ und Microsoft zur „European Cloud Alliance“.
In einem Punkt sind sich Kritiker wie auch die Promotoren von Gaia-X immerhin einig: Europa ist in Sachen Cloud-Technologie circa 10 Jahre hinterher und kann technologisch nicht so schnell aufholen.
Und genau dieses Argument dient den Gaia-X-Vertreter:innen, dabei einen komplett anderen Weg einzuschlagen: „Wir wollen keinen amerikanischen Weg, keine Monopolisierung, keine kommerzielle Closed-Source-Infrastruktur. Unser Ziel sind Wahlfreiheit, Interoperabilität und Kontrolle über unsere Daten“, sagt Jan Fischer, Leiter des deutschen Gaia-X Hubs gegenüber DNIP.ch. Den Wettbewerb um die wirtschaftliche Nutzung privater Daten habe das Silicon Valley für sich entschieden, u. a. auch durch die Kombination von zentralen Cloud-Infrastrukturen und werbebasierten Geschäftsmodelle.
Bei der Wertschöpfung aus Industriedaten hingegen hat die Europäische Union noch eine Chance zu konkurrieren. Hier steht die Marktentwicklung noch am Anfang, sagt Fischer.
Die deutschen Vertreter von Gaia-X nennen im Gespräch mit DNIP.ch immer wieder eine Zahl, die auch schon EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwähnt hat: 80 % der europäischen Industriedaten sind komplett ungenutzt.
Es handelt sich dabei um Informationen, die etwa beim Produktionsprozess anfallen. Diese europäischen Datenschätze liegen in den Silos von KMUs und Grossfirmen. Im globalen Wettbewerb um die gemeinsame Wertschöpfung aus Industriedaten hat Europa noch eine Chance, sagt Fischer.
Und darin besteht der USP von Gaia-X: Unternehmen teilen ihre Datenberge miteinander – in einem Ökosystem interoperabler und rechtssicherer Datenräume. Dabei soll keine neue zentralisierte Datenbank entstehen, sondern die Informationen verbleiben beim Datenbesitzer, der diese nur auf Anfrage herausgibt.
Ein Beispiel wären Sensordaten im Maschinenproduktionsablauf. Viele Unternehmen sammeln und speichern Daten, in der Hoffnung damit etwas später machen zu können. Hier könnte man eine Art „Predictive Maintenance“ entwickeln, um allfällige Ausfallrisiken bei einer ganzen Lieferkette vorherzusagen. Das heisst, wenn Produktionsanlagen in einem Datenraum miteinander vernetzt werden, können Kapazitätsengpässe über das verteilte Netz abgefangen werden. Der Autohersteller Volkswagen der mehrere Tausend Teile in einem (benzinbetriebenem) Auto verbaut, weisst rechtzeitig Bescheid über Defizite seiner Zulieferer. „Gaia-X soll helfen, Abhängigkeiten von einzelnen Plattformen und Technologieanbietern zu entschärfen“, ergänzt Fischer.
Europäische Firmen einigen sich also über einen Datenaustausch entlang der Lieferkette und entwickeln neue datenbasierte Geschäftsmodelle. Ein weiteres Beispiel wäre die Umsetzung des „Batteriepass“ oder die Berechnung eines „CO₂ Footprint“-Indikators, der etwa bei Catena-X entwickelt worden ist, einem Datenraum der deutschen Automobilindustrie. Daten von Elektroladestationen können beispielsweise interessant sein für Energienetzbetreiber, wie die Organisation Gaia-X in einem Video erklärt.
Dient Gaia-X am Ende einfach nur der reinen Kommerzialisierung von Daten allein zugunsten des wirtschaftlichen Profits?
Jein.
Gerade bei Health X – einem von 2 Gaia-X-Förderprojekten für einen Gesundheitsdatenraum — geht es auch darum, dass solche Datentransparenz auch bessere Therapien ermöglichen. „Es geht um Fortschritt und wirtschaftliche Wertschöpfung aus Daten, von der nicht nur einige wenige profitieren“, ergänzt Fischer.
Radikales Umdenken: Weg von zentralisierten Datenbanken hin zu dezentralen Infrastrukturen
Spätestens beim Thema Gesundheit gehört es sich jedoch für eine gewissenhafte Europäerin reflexhaft die Fragen nach dem Datenschutz zu stellen. Wie verhindert Gaia-X, dass hier sensitive Patientenformationen ohne Wissen der Betroffenen frei zirkulieren? Da sorge man bei Gaia-X vor, erläutert Jan Fischer. Über Pseudonymisierung und Anonymisierung von Datensätzen sowie sicherer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und strenger Protokollierung der Zugriffe könnten Krankenhäuser einen Austausch von Gesundheitsinformationen mit Pharmaunternehmen vollziehen. Die betroffenen Patienten sollen mit eIDAS (der europäischen staatlichen eID) auch frei über die Weitergabe für die Forschung bestimmen können.
Ob eine solche Anonymisierung und Pseudonymisierung bei derart grossen Datenmengen funktionieren wird, ist jedoch mehr als fraglich.
Damit ein Datenaustausch möglich ist, müssen natürlich alle Beteiligten vom Gleichen reden. Und genau diese Vereinheitlichung setzt die Erstellung von Katalogen voraus, bei der die teilnehmenden Akteure ihr Angebot an Daten und digitalen Diensten kommunizieren und sich damit auch untereinander „verstehen“. Technisch gesprochen redet man auch von einer Föderation: Also einer Gruppe von verschiedenen Teilnehmern, die auf Augenhöhe zusammenarbeiten (Selbstverwaltung, Subsidiaritätsprinzip). Diese Föderationen ermöglichen es, Daten und Dienste sicher und souverän auszutauschen und zu nutzen.
Solche technische Pionierarbeit benötigte breite Verständigung über Berufs- und Branchengrenzen hinweg – und manche Sitzungsrunde, sagt Fischer auch als Rechtfertigung gegenüber den Nörglern, die die vielen Gaia-X-Meetings für reine Zeitverschwendung halten.
In dieser Zeit sei wertvolles „Schnittstellenwissen“ geschaffen worden, Jurist:innen und Programmier:innen verstehen einander besser. Und in dieser Zeit sind auch neue Technologien wie die sogenannten „Federation Services“ entstanden, die auf Open Source basieren. Also beispielsweise Tools für das Identitätsmanagement, damit die einzelnen Akteure sich in den Datenräumen anmelden und miteinander geschützt kommunizieren können.
Dass Unternehmen sich nicht mehr abschotten und der datenbasierten Kooperation mit der Konkurrenz öffnen, erfordert ein radikales Umdenken der Industrie. Schliesslich gehörte die Akkumulation und Hortung von Daten seit den 90er Jahren zur Leitmaxime der Digitalwirtschaft.
Nach 5 Jahren Grundlagenarbeit liegt der Ball nun bei der Industrie. Europas kleine und mittlere Unternehmen müssen nun selbst Geschäftsideen entwickeln, wenn sie Teil eines solchen Datenraums werden wollen. Gaia-X möchte daher auch eine Roadtour planen.
EU-Industriepolitik verlangt nach Datenwirtschaft
Bert Hubert, dessen einflussreiche Blogartikel zu Gaia-X schon einiges aufgewirbelt haben in den Niederlanden und auch in Brüssel, ist noch nicht überzeugt von den Resultaten dieser 5 Jahre Aufbauarbeit. Hier sind weder Rezepte für Datenräume, noch konkrete Standards entstanden. Man habe sich quasi darüber verständigt, worüber man sich noch einig werden müsse: „Wir haben jetzt vielleicht das Meta-Rezept“.
Huberts Kritikpunkte sind absolut legitim: Gerade beim Thema Datenraum ist die Teilnahme von amerikanischen Hyperscaler erst recht fragwürdig. „Für Anforderungen wie Data Storage (Speicherung) haben wir genügend europäische qualifizierte Unternehmen“. In seinem Blogartikel erwähnt Hubert beispielsweise die französische Firma OVH, den deutschen Cloudriesen Hetzner oder die Schweizer Cloud-Firma Exoscale als Beispiele. Dafür brauche es erst recht keine Big-Tech-Unternehmen.
Doch unabhängig von der Debatte, wie viele und welche Köche bei den Gaia-X-Pilotprojekten nun mitmischen: Das Konzept des Datenraums ist nicht nur ein nice to have-Projekt von ein paar EU-Staaten.
Brüssel hat dieses Digitalisierungsprojekt sogar zu einer Priorität erklärt.
Ein neues industriepolitisches Gesetz macht gesetzlichen Druck für die Etablierung eines Daten-Ökosystems. Der europäische Data Act – der von den Mitgliedsstaaten 2025 umgesetzt werden muss – zwingt europäische Firmen zum Aufbrechen ihrer Datensammlungen. Unternehmen, die vernetzte Produkte und Dienste herstellen oder anbieten, müssen allen einen Zugang zu den generierten Daten in einem nutzerfreundlichen Format ermöglichen.
Infobox: Schweiz will auch Datenräume und ein Datenökosystem schaffen
Auch in der Schweiz ist das Thema Datenraum noch oben auf der digitalpolitischen Agenda.
Das Bundesamt für Justiz arbeitet zurzeit ein Rahmengesetz zur Sekundärnutzung von Daten aus. Grundlage dafür war eine Motion der Wissenschaftskommission des Ständerats. Beide Räte haben das ambitionierte Vorhaben bereits angenommen. Handlungsbedarf sieht das Bundesparlament bei Schaffung eines Gesundheitsdatenraums, Energiedatenraums, Bildungsdatenraums, Agrardatenraums und Umweltdatenraums. Die Dateninfrastrukturen müssen laut Medienmitteilung des Bundesrats Datenschutz, IT-Sicherheit und Interoperabilität aufweisen.
Auch die Anlaufstelle für Datenräume – angesiedelt bei der Bundeskanzlei — nimmt ihre Arbeit zu Beginn 2025 auf. Die Swiss Data Alliance wird ausserdem den Gaia-X Hub Schweiz für eine Laufzeit von 3 Jahren repräsentieren, wie André Golliez auf Anfrage von DNIP.ch bestätigt. Ziel ist ein enger Austausch zwischen Gaia-X Schweiz und der nationalen Anlaufstelle des Bundes.
Erste Resultate für einen Datenraum zwischen öffentlichem Sektor und Privatwirtschaft zeigen sich etwa bei der Konzeption einer Mobilitätsdateninfrastruktur. Das Bundesamt für Verkehr hatte gemeinsam mit der Swiss Data Alliance konkrete Anwendungsfälle ausgearbeitet. Beispielsweise zur Frage: «Wie helfen Mobilitätsdaten Leben zu retten? Die Nutzung von Mobilitätsdaten für Schutz, Rettung und Krisenbewältigung». Das Bundesamt für Kommunikation BAKOM gab zusätzlich einen (nicht verbindlichen) Verhaltenskodex für vertrauenswürdige Datenräume heraus.
Konkretes Beispiel: Ein Bauer, der beispielsweise einen mittelgrossen Hof betreibt und moderne Landmaschinen nutzt, erhält dank des europäischen Data Acts Zugang zu den detaillierten Betriebsdaten seiner Maschinen, die aktuell zum Teil nur bei den Herstellern liegen. Mit diesen Informationen könnte der Bauer seine Feldarbeit optimieren, indem er Daten über Kraftstoffverbrauch, Arbeitszeiten und Flächenleistung analysiert.
Die EU erwartet, dass mit der Datenökonomie bis 2028 ein zusätzliches BIP von 270 Milliarden Euro für die EU-Mitgliedsstaaten generiert werden würde.
Das Datenraum-Konzept von Gaia-X bietet also einen Ansatz die regulatorischen Vorgaben des EU Data Acts umzusetzen. Es wäre gut, wenn nach der langen konzeptionellen Arbeit bald endlich erste praktische Ergebnisse vorliegen und besonders KMUs wissen, wie sie damit Geschäftsmodelle entwickeln können. Auf den ersten Blick klingt der Ansatz vielversprechend, er birgt aber auch Risiken. So muss eben sichergestellt werden, dass eben auch die „Kleinen“ von solchen Datenzugängen profitieren, nicht nur grosse Hersteller wie Volkswagen. Auch potenzieller Missbrauch in Sachen Datenschutz und zur digitalen Selbstbestimmung wird wohl kaum zu vermeiden sein. So ist fraglich, ob bei derart grossen Datenmengen Massnahmen wie Anonymisierungen überhaupt greifen.
Eine abschliessende Bilanz zur Aufbauarbeit von Gaia-X, wie die Zukunft der IT-Initiative aussehen wird und was Ganze mit der Schweizer „Swiss Government Cloud“-Beschaffung zu tun hat, gibt es morgen im Teil 2 zu lesen.
Die Gaia-X-Rechercheserie wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung des Journafonds.
Eine Antwort
Kann es sein, dass hier „Europäisch“ und „EU“ an einigen Stellen verwirbelt wird?
„Die betroffenen Patienten sollen mit eIDAS (der europäischen staatlichen eID)“ – eIDAS ist meines Wissens ein EU-Projekt, kein europäisches Projekt (wo dann auch Norwegen, die Schweiz und einige andere mitgemeint wären).
Grundsätzlich:
Ich verfolge Gaia-X seit dem Anfang, aber als dann publiziert wurde, dass Microsoft, Amazon & Co „beigetreten“ sind, hat sich das Ganze für mich sehr absurd angehört. Dass die gar kein Interesse daran haben, dass Gaia-X jemals zum Fliegen kommt ist nicht überraschend und dass die Methoden, dies zu sabotieren, ganz sicher sehr subtil sein werden, auch. Schade eigentlich, wie konnte das passieren und wo ist da der Fehler passiert?
Ich dachte eigentlich, dass eines der zentralen Themen von Gaia-X gewesen wäre, dass es keinen Vendor-Lock-In gibt, ein Kunden also seine Daten und virtuellen Maschinen von einem Provider im Gaia-X Kontext zu einem anderen verschieben kann. Darüber war nichts zu lesen, weil das schon lange kein Thema mehr ist?
Danke für die Ausführungen zu „Datenräume“, das hat bei mir im Kopf einen gewissen Aha-Effekt ausgelöst.