Ich packe meinen Rucksack und nehme mit: Helm, Schutzbrille und Atemschutzmaske, ein Erste-Hilfe-Kit und zwei Armbinden in neongelb, darauf steht in schwarzen Grossbuchstaben «PRESS», Farbkopien meiner Journalistenausweise, eine wasserfeste Hülle für mein Mobiltelefon, die ich mit einem Karabiner-Hacken am Tragegurt befestige, Block und Bleistift.
Im Mai 2024 reise ich das erste Mal nach Georgien. Gut ein Fünftel des Landes ist von Russland besetzt. Wie die Ukraine. Im Jahr 2008 marschierten russische Truppen und Separatisten in die Regionen Abchasien und Südossetien ein. Heute teilt Stacheldraht das Land.
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ToggleWem gehört das Land?
Seit letztem Sommer protestieren Hundertausende Georgierinnen immer wieder gegen das, wie sie sagen, «russische Gesetz». Ihrer Ansicht nach soll das neue Gesetz die Opposition zum Schweigen bringen, so wie der Kreml Kritikerinnen in Russland mundtot macht. Es handelt sich um eine georgische Kopie, die Organisationen “als Agenten” markiert, die 20 Prozent und mehr ihrer Gelder aus dem Ausland erhalten.
Auf dem Rustaweli-Boulevard in Hauptstadt Tbilissi, auf der Strandpromenade des Badeorts Batumi am Schwarzen Meer oder in den Strassen der Universitätsstadt Kutaissi rufen sie:
Wem gehört das Land? – Uns!
Wohin gehen wir? – Nach Westen!
Und sie wehren sich gegen die Abschaffung der Frauenquote, Steuererleichterungen für Oligarchen und die Hetze auf die Queer-Community.
Und dann sind da noch die Wahlen Ende Oktober.
Einer von ihnen ist ein junger Mann mit Motorradhelm. Tagsüber versucht er sich als Fotograf, abends kellnert, nachts protestiert er. Er ist Teil der Instagram-Generation, die vor dem georgischen Parlament den Ruf nach Westen skandiert, und die, sich gegen die schleichende Vereinnahmung Georgiens durch Russland wehrt.
Auch der junge Mann packt seinen Rucksack: Walkie-Talkies, Trillerpfeife, Knieschoner. Eine Extra-Packung Zigaretten und Müsliriegel für den Notfall. Um Pfefferspray und Tränengas der Polizei aus seinen Augen zu spülen, hat er eine grosse Spritze dabei. Handschuhe, um Blendgranaten abzuwehren.
Sein Protest soll im Parlament in Tbilissi gehört werden, im Weissen Haus und in Brüssel. Im Kreml. Im richtigen Augenblick laut werden, dann wieder in der Menge verschwinden. Sich im Strom der Gesichter bewegen, dabei sein, ohne aufzufallen.
Die georgische Regierung hält dagegen. Mit Methoden, die an Russland erinnern. Aktivisten und Politikerinnen der Oppositionen berichten von anonymen Drohanrufen in Massen. Auch der junge Mann und seine Mutter sollen angerufen worden sein. Manchen wird vor der Haustür aufgelauert, andere werden auf Plakaten in der Stadt diffamiert. Bei den Protesten schlägt die Polizei zu, mit Pfefferspray und Gummiknüppeln, mit Tränengas und Blendgranaten. Schlägertrupps in Zivil prügeln auf Demonstranten ein. Einige werden festgenommen, durchsucht und ins Gefängnis gebracht.
Er, der demonstriert, und ich, die vor Ort recherchiert, bereiten unsere Handys vor. Meine Checkliste: Fingerabdruck- und Face-ID-Sperren raus, Apps für verschlüsselte Kommunikation rein. Alles Unnötige abmelden. Flugmodus an, Daten gesichert. Das Handy bleibt gesperrt, wenn Fotos und Videos von den Protesten gemacht werden. Das bedeutet: keine Pin-Eingabe, Gesichts- oder Fingerabdruck. «Speed-dial» only. So wenig Spuren wie möglich hinterlassen. Unruhen können gefährlich werden und mit Überwachung, Verhaftungen und gezielten Angriffen einhergehen. Und wenn das Handy konfisziert wird? Passwörter aller Apps ändern.
Ich plane meine Recherchen an Demonstrationen, auch für den Fall, dass ich meine Ausrüstung verliere.
Und der junge Mann? Er lässt sich nicht einschüchtern.
Yandex oder Google
Sei dem Überfall auf die Ukraine flohen eine Million Menschen aus Russland. Hunderttausende sollen nach Georgien gekommen sein. Auch mit dem Direktflug von Moskau nach Tbilissi. Junge und Alte. Darunter Touristen und Spione, Geschäftsleute und Oppositionelle. Manche fliehen, um dem Militärdienst zu entgehen. Andere suchen Schutz vor Repression und Verfolgung. Wieder andere hoffen, in Georgien die Freiheit zu finden, die ihnen Putin genommen hat.
Was auch vor Längerem importiert wurde aus Russland: Yandex. Über das riesige russische digitale Ökosystem von Werbung, Nachrichten, Video etc. lesen sie Nachrichten und den Wetterbericht, lassen sich das Abendessen nach Hause liefern oder senden der Freundin Blumen. Sie googlen nicht, sie yandexen.
Der junge Mann erzählt mir, wie er einmal ein Taxi über Yandex bestellte, um nachts nach Hause zu fahren. Der Fahrer streamte russische Nachrichten. Es ging um die Proteste in Tbilissi, die Kamera fing den jungen Mann ein, und der Moderator wütete: «Päderast!», «Schwuler!», «Satantist!», erinnert sich der junge Mann. Er bat den Fahrer, den Ton leiser zu stellten. Der stoppte das Auto, wollte ihn packen.
Der junge Mann entkam.
Er löschte die App.
Er will seinen Namen, seine Adresse nicht mehr teilen. Schon gar nicht mit einem russischen Dienst. Auch wenn andere Taxifahrer fast das Doppelte für die Fahrt nach Hause verlangen.
«Twitter and Tear Gas»
Zeynep Tüfekçi, eine Soziologin, die auch Kolumnen für die «New York Times» schreibt, recherchierte 2013 bei den Demonstrationen im Gezi-Park in Istanbul. Organisiert über Soziale Netzwerke, ohne legitimierte Sprecherinnen, brachten diese Menschen aus allen Teilen der türkischen Gesellschaft zusammen.
In der Woche, in der Proteste in der Türkei aufflammten, enthüllte Edward Snowden das Ausmass der US-amerikanischen Überwachungsprogramme. Tüfekçi beschreibt die Methoden von Überwachung und Repression in ihrem Buch «Twitter and Tear Gas», also Twitter und Tränengas. Da geht es um Verunglimpfung von Aktivistinnen in Sozialen Netzwerken und Kräfte, manche bezahlt, die das Netz mit Zweifeln, Ablenkung und Lügen fluten. Aktivistinnen werden gehackt und ihre persönlichsten Informationen publik gemacht.
Der junge Mann und seine Mitstreiterinnen wissen das: So funktioniert Desinformation. Den Gegner verwirren. Das Land destabilisieren. Eine Gesellschaft spalten. In Georgien sind es Facebook und Instagram, über die Falschmeldungen verbreitet und Desinformationskampagnen lanciert werden. Günstig und ohne grossen Aufwand.
Manche erinnern an die Wucht der Demokratiebewegungen auf dem Maidan in Kyjiw oder in den Strassen von Hongkong. An den Arabischen Frühling, an Occupy Wall Street oder Black Live Matters. Tüfekçi sucht den Vergleich in der Literatur. Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» sei die Blaupause, nicht Orwells Dystopie «1984». Die vernetzte Öffentlichkeit heute, so auch in Georgien, entziehe sich totalitärer Kontrolle.
Noch im Mai trotzte das georgische Parlament jedoch den Protesten und verabschiedete das Überwachungsgesetz nach russischem Vorbild.
Heute, die langen Sommerferien sind vorbei, hat in Georgien der Wahlkampf begonnen.
Der junge Mann hat die Prügel und die Verhaftung nicht vergessen. Nicht den Taxi-Fahrer. Nicht das Tränengas und die Blendgranaten.
Er will das Land verlassen, wenn sich Georgien im Herbst für Russland entscheiden sollte.
Hinter der Recherche
Mit einem Stipendium des Medienfonds ‹real21 – die Welt verstehen› bin ich in Georgien unterwegs. Mein Anker ist eine Schweizerin, die im Hof eines Altstadthauses in Tbilissi ein Restaurant betreibt. Dort haben sie und ihre Mitstreiter einen Zufluchtsort des zivilen Ungehorsams geschaffen.
Im Mai lebte ich eine Woche bei ihr, lernte die Hausgemeinschaft und die Mitarbeiter des Restaurants kennen. Einer von ihnen ist der junge Mann, über den ich hier schreibe.
Dort, im Hof, trafen sich Georgierinnen. Sie stärkten sich mit Fleischspiessen vom Holzkohlegrill, packten Gasmasken und Kochsalzlösung gegen das Tränengas der Polizei in ihre Rucksäcke. Abend für Abend zogen sie vor das Parlament und demonstrierten.
Ende September, einen Monat vor den Parlamentswahlen, werde ich die Schweizerin wieder nach Georgien begleiten.