Widerstand beginnt oft nicht mit grossen Gesten, sondern in kleinen Entscheidungen. Eine hastig mit gelber Farbe auf eine Mauer gesprühte Parole, ein wackeliges Video, das Polizeigewalt dokumentiert, oder ein junger Mann, der bei Protesten auf dem Rustaweli-Boulevard in Tbilissi seinen roten Motorradhelm wie ein Schild vor der Brust trägt. Er ist einer von Tausenden, die seit mehr als einem Jahr immer wieder auf die Strassen gehen, um zu verhindern, dass Georgien zu einem «Hinterhof Russlands» wird.
Die Proteste in Georgien rufen Erinnerungen an die Ukraine vor gut zehn Jahren wach – an die Zeit vor dem Angriffskrieg, als die Spannungen mit Russland immer deutlicher spürbar wurden. Als sich Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan im Zentrum Kyjiws, versammelten und der eisigen Kälte und einer zunehmend autoritären Regierung trotzten, die sich Moskau beugte.
Vorwürfe von Manipulation und sogar Betrug überschatteten die Parlamentswahlen in Georgien Ende Oktober. Seit die georgische Regierung dann Ende November die Beitrittsgespräche zur Europäischen Union ausgesetzt hat, skandieren die Demonstranten erneut den Ruf nach Westen. Sie zünden Feuerwerkskörper und werfen sie in Richtung der Polizei. Und die schlägt zurück, erst mit Pfefferspray und Gummiknüppeln, dann mit Tränengas und Blendgranaten. Schlägertrupps in Zivil prügeln auf die Demonstranten ein. Sie nennen sie die «Schwarzen Männer». Und die ziehen Kapuzen tief ins Gesicht und schwarze Balaklavas über Mund und Nase, ihre Augen sind kaum zu erkennen. Wer die «Schwarzen Männer» sind, weiss niemand so genau. Sie erinnern an die «Tituschki», die bezahlten Schläger des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, der 2014 mit einem Helikopter aus dem Land nach Russland floh.
Büros von Oppositionellen und Aktivistinnen werden durchsucht, Journalistinnen eingeschüchtert. Hunderte werden festgenommen, durchsucht und ins Gefängnis gebracht. So auch der junge Mann mit dem roten Helm. Anfang Dezember wird er verhaftet und für 12 Tage in Gewahrsam genommen. Die Nachricht von seiner Verhaftung verbreitet sich schnell: auf Facebook, in Mitteilungen auf WhatsApp und Signal, und in Berichten georgischer Nachrichtenportale.
Bald kursiert das Gerücht, auch auf Facebook, der junge Mann habe Journalisten angegriffen – ausgerechnet er, der davon träumt, selbst einmal als Reporter vor der Kamera zu stehen. Wer solch ein Gerücht streut – Russland, der Georgische Traum oder andere Gruppen mit eigenen politischen Interessen – will die öffentliche Meinung manipulieren und Verunsicherung schaffen. Solche Desinformationskampagnen sind aus Moldau bekannt.
Zur selben Zeit werden die Fernsehjournalistin Maka Chikhladse und ihr Kameramann Giorgi Shetsiruli bei ihrer Arbeit auf der Strasse in Tbilissi attackiert und zu Boden gerissen. Ihre Ausrüstung wird geklaut. Sie berichten für den oppositionsnahen Fernsehsender Pirveli von der zehnten Nacht der Proteste in der Hauptstadt. Sequenzen der Attacke werden auf Instagram geteilt, die Deutsche Presse-Agentur berichtet, die BBC sendet. Zu sehen sind bullige «Schwarze Männer» – der junge Mann mit dem roten Helm, drahtig, ist nicht unter ihnen.
Seine Mitstreiterinnen wissen: So funktioniert Desinformation – sie soll spalten, verunsichern und Zweifel säen. Wer sie streut? Keiner weiss es so genau. Aufgeben wollen seine Mitstreiterinnen nicht, auch wenn sie erschöpft sind. Wut und Angst zehren an ihnen. Auf Facebook hinterlassen sie Nachrichten für den jungen Mann:
«Du bist ein guter Junge!!»
«Bleib stark!!!»
«Wir warten auf Dich.»
«❤️🇬🇪🇪🇺🙏»
Und sie protestieren weiter. Abend für Abend ziehen sie vor das georgische Parlament. Sie schmücken den haushohen Weihnachtsbaum davor mit Fotos der verprügelten Demonstranten – Aufnahmen, die blaue Augen, Verbände über Wunden und Halskrausen zeigen, die geschundene Nacken stabilisieren. Trillerpfeifen baumeln um ihre Hälse, ihre Münder und Nasen sind mit Masken bedeckt, um sie vor Pfefferspray und Tränengas zu schützen.
Anfang Dezember kündigte Regierungschef Irakli Kobachidse ein Gesetz an, das Masken bei Versammlungen verbietet. «Wer mit verhülltem Gesicht an einer Demonstration teilnimmt, bereitet sich auf Gewalt vor», begründete Kobachidse die Massnahme. Offiziell soll das Gesetz Gewalt eindämmen – tatsächlich jedoch richtet es sich gegen die Protestierenden, die die darum kämpfen, dass ihr Land nicht in den Autoritarismus abgleitet und sich deshalb gegen Kobachidse und seine Partei Georgischer Traum stellen.
Das Gesetz könnte den Einsatz von Überwachungstechnologien erleichtern, die gemäss Amnesty International weltweit immer häufiger genutzt werden. Systeme zur Gesichtserkennung helfen, Protestierende zu identifizieren und staatliche Macht zu festigen – Technologien, die in Städten wie Hebron und Ost-Jerusalem, Hyderabad und New York City im Einsatz sind. Dafür braucht es Überwachungskameras. Ausgerüstet mit Software.
Das georgische Innenministerium kaufte für 85’000 Lari, umgerechnet 27’000 Franken, Kameras des chinesischen Unternehmens Dahua. Dahua bewirbt das Modell mit Funktionen künstlicher Intelligenz. Das Modell SD6CE245GB-HNR 2MP 45x Starlight IR Network PTZ Camera könne: Gesichter und Körper von Menschen sowie Fahrzeuge erkennen; Emotionen anhand von Gesichtsausdrücken wie Wut, Trauer, Hass, Angst, Überraschung, Ruhe, Freude oder Verwirrung identifizieren; feststellen, ob eine Person eine Maske trägt; sowie Geschlecht und Alter einer Person bestimmen.
Gemäss einer Studie der Carnegie-Stiftung setzten Länder wie Argentinien, Bahrain, Brasilien, Mexiko, die Mongolei und die Türkei bereits 2018 Überwachungstechnologien von Dahua ein. In Xinjiang profitierte das Unternehmen vom dortigen Sicherheitsregime. Zusammen mit Hikvision bediente Dahua damals schon ein Drittel des globalen Marktes für Sicherheitskameras. Die USA sanktionierten Dahua und Hikvision im Jahr 2022. Im Frühjahr 2024 bestätigte ein Bundesgericht den Entscheid.
Und heute: Georgien.
In Ausrüstung hatte die Polizei vor der Parlamentswahl Ende Oktober investiert: Wasserwerfer, Pistolen und automatische Schusswaffen.
Ob Georgien Spyware nutzt, bleibt unklar. Die Regierung setzt sonst auf Repression durch «Low Tech»-Methoden. Ein Experte, der nicht mit Namen genannt werden will, sagte mir, dass Überwachungstechnologien oft nicht notwendig seien, da gezielte Einschüchterung und Polizeigewalt ausreichten, um Oppositionnen zu schwächen.
Am Sockel des georgischen Parlaments hat jemand in Gelb gesprayt: «Police everywhere Justice nowhere.» – Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit. Die Proteste in Georgien sind mehr als ein Aufbäumen gegen Machtmissbrauch. Sie sind ein Kampf um die Richtung, in die das Land gehen soll: prorussisch hier, proeuropäisch dort. Zwischen Repression und Überwachung, Desinformation und Polizeigewalt versuchen die Demonstrantinnen und Demonstranten, ihre Stimmen hörbar zu machen. Im Parlament in Tbilissi, im Weissen Haus und in Brüssel.
Wird ihr Widerstand reichen, um das Land auf einen europäischen Kurs zu halten, oder werden sie im Lärm der Unterdrückung verstummen? Was, wenn sie es schaffen?
Hinter der Recherche
Mit einem Stipendium des Medienfonds ‹real21 – die Welt verstehen› war ich im Frühjahr und im Herbst in Georgien unterwegs. In einem Restaurant in Tbilissi traf ich den jungen Mann mit dem roten Motorradhelm, über den ich hier schreibe. Im Hof erzählte er mir von seinem Wunsch, Journalist zu werden.