Wie bereits letzte Woche im eher technischen Bluesky-Artikel angekündigt, fokussieren wir heute im zweiten Teil auf die Benutzer-Sicht und Fragen rund um Ownership und Finanzierung. Zum Einstieg wird es aber nochmals etwas technisch. Feedback von Leserinnen und Lesern hat uns auf einige Ergänzungen und Unklarheiten hingewiesen, auf die wir hier gerne kurz eingehen.
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ToggleErgänzungen zur Technik-Erklärung
Die zentrale Rolle des Relay (also des Servers, über den sämtliche Posts verteilt werden) haben wir im ersten Artikel etwas arg überzeichnet:
- Ein Relay ist nicht zwingend notwendig, das steht sogar so im Glossar von ATProto. Ein Relay trägt aber dazu bei, die Anzahl Netzwerkverbindungen zu reduzieren, da eine App ja ohne Relay die Posts direkt von allen PDS (Personal Data Server, die Server welche die Accounts und Posts speichern) beziehen müsste.
- Es gibt unterdessen eine unabhängig von Bluesky entwickelte und betriebene Relay-Komponente, die ein engagierter Software-Entwickler erstellt hat. Aus Kostengründen integriert diese zurzeit nur kleinere PDS und fokussiert auf aktuelle Posts. Wer seinen eigenen PDS betreibt, kann seine Inhalte nun auch über diesen neuen Relay (oder eine eigene Installation desselben) verteilen. Für eine vollständige Social Media-Plattform braucht es allerdings noch Clients/Apps, welche die Posts von beliebigen Relays beziehen.
Insgesamt kam im ersten Artikel der Unterschied zwischen
- ATProto (welches die grundsätzliche Netzwerk-Architektur und den Datenaustausch definiert),
- Bluesky als Social Media-Netzwerk (welches mit ATProto implementiert wird) und
- Bluesky als Unternehmen (welches sowohl ATProto weiterentwickelt als auch das Social Media-Netzwerk Bluesky als Referenzimplementierung aufbaut)
zu kurz.
ATProto erlaubt (von der letzte Woche erwähnten Problematik mit der zentralen DID-Vergabe abgesehen) den Betrieb verschiedener Social Media-Netzwerken auf derselben Architektur-Basis und mit demselben Protokoll. Diese können entweder unabhängig voneinander funktionieren oder, über in mehrere dieser Netzwerke eingebundene PDS, auch Daten austauschen (was man als föderiert bezeichnen kann). Das Social Media-Netzwerk Bluesky hingegen ist ein auf ATProto-Basis realisiertes, schlussendlich zentrales Netzwerk. Ob eine Föderation auf Basis von ATProto in der Praxis möglich ist, wird sich zeigen, falls in Zukunft ein zweites Netzwerk auf derselben Basis entsteht.
Mehr zur Bedeutung von Protokollen findet sich in Protocols, Not Platforms: A Technological Approach to Free Speech. Der Text bietet eine interessante Perspektive zur Frage, wie die Meinungsfreiheit und die Moderation von Inhalten in den sozialen Medien in Einklang gebracht werden können. Er schlägt einen Fokus auf Protokolle als potenzielle Lösung vor. Viele der im Papier geäusserten Ideen finden sich in ATProto wieder.
Moderation und User Empowerment
Moderation von Inhalten
Keine moderne Social Media-Plattform kommt ohne Moderations-Tools aus, das ist auch bei Bluesky nicht anders.
- Herkömmliche Plattformen wie X oder Threads stützen sich primär auf zentrale Filter und Moderations-Teams ab, welche die Verbreitung illegaler Inhalte verhindern und auf Hinweise von Benutzern abwägen, ob ein gemeldeter Post oder ein gemeldetes Account gegen die Plattform-Richtlinien verstösst. Den Benutzerinnen selbst bleibt als weiteres Mittel typischerweise nur der Weg, ungewollte Accounts als ganzes stummzuschalten oder zu blockieren.
- Auch im Fediverse sind für die Benutzer Stummschalten und Blockieren die Hilfsmittel der Wahl. Zusätzlich können problematische Posts/Accounts dem Betreiber des jeweiligen Servers gemeldet werden, der den Account gegebenenfalls warnt oder sperrt. Zum Tragen kommt für die Moderation auch eine weitere Eigenschaft von föderierten Systemen: Niemand kann zur Föderation gezwungen werden. Wenn zum Beispiel von einem Server zu viele Hate Posts etc. ausgehen, und dessen Betreiber nicht gewillt ist, entsprechende Accounts zu sperren, dann können andere Server im Fediverse die Kommunikation mit diesem Server einstellen und ihn so isolieren.
Auch bei Bluesky gibt es zuerst einmal dieselben üblichen Werkzeuge, und auch ein zentrales Moderations-Team. Dass dieses jetzt gerade erst von 25 auf 100 Mitarbeiter aufgestockt wurde, zeigt hauptsächlich, dass mit dem steigenden Interesse an Bluesky auch das Missbrauchspotential steigt.
Überdies bringt Bluesky (bzw. ATProto als zugrundeliegendes Protokoll) einige weitere Funktionen mit, welche einer Benutzerin mehr Kontrolle über ihre Timeline geben:
- Ein Block ist auf Bluesky effektiv ein Block. Der geblockte User hat keine Möglichkeit mehr, mit dem blockierenden User in einer Form zu interagieren. Ferner werden rückwirkend auch ältere Replies verborgen. Dies hat zwei Vorteile, welche beide mithelfen, Shitstorms zu verhindern:
- Dritte sehen die Antworten des blockierten Accounts unter meinen Posts nicht mehr,
- die Replies sind zwar direkt beim blockierten Account noch sichtbar, dort fehlt aber die Referenz auf den Ursprungspost.
- Auf X beliebt ist, einen Post kommentierend zu verlinken und ihn so seinen eigenen Followern weiterzuleiten (oft mit der impliziten Hoffnung, dass diese dann unter dem verlinkten Original-Post einen Shitstorm entfachen). «Dank» den Softblocks auf X (welche nur die direkte Interaktion unterbinden, nicht aber das Lesen) kann man so trotz Block andere Posts kommentieren. Als Betroffener kann man sich da nur beschränkt wehren, da das Blockieren des Kommentierenden die Verlinkung nicht beeinflusst, der eigene Post für Dritte also weiterhin sichtbar ist. Bluesky geht hier einen Schritt weiter: Ich sehe in meinen Notifications, wenn mich jemand in einem Post verlinkt, und kann diese Verlinkung dann auflösen (und die Anzeige des Posts unterdrücken).
Überdies gibt es zwei weitere Funktionen, mit welchen Bluesky es Benutzern nicht nur ermöglicht, die Inhalte der eigenen Timeline zu steuern, sondern ihre jeweiligen Moderationsentscheide auch mit anderen zu teilen:
- Bei den im Teil 1 erwähnten Labeler, welche jeden Post und jeden Account mit Meta-Daten wie NSFW (Not safe for work, z. B. Darstellungen von nackten Körpern), AI-Generated etc markieren können, werden nur wenige von Bluesky selbst bereitgestellt. Die weitaus grössere Zahl kommt von den Benutzerinnen selbst. Mit diesen Labeler lassen sich Posts und Accounts markieren, um zum Beispiel auf Anhieb erkennen zu können, ob ein Account oft NSFW-Inhalte verbreitet.
- Jeder Benutzer kann Moderationslisten anlegen und Accounts zu dieser hinzufügen, welche er für als Kandidaten für Stummschaltung oder Blocks betrachtet. Andere Bluesky-Benutzerinnen können diese Moderationslisten dann abonnieren und so eine ganze Reihe von Accounts automatisch ausblenden.
All diese Möglichkeiten zielen darauf ab, den Benutzern mehr Kontrolle über die eigene Timeline zu geben. Auch sind sie darauf ausgelegt, die Entstehung von Shitstorms zu verhindern. Und sie erschweren es Accounts, welche sich durch aggressive Posts Aufmerksamkeit verschaffen wollen, Reichweite zu gewinnen, da diese schnell praktisch unsichtbar werden, wenn viele User sie stummschalten oder blockieren.
Diese Möglichkeiten haben bis jetzt zu einem entspannten Social Media-Erlebnis auf Bluesky beigetragen. Und der erste subjektive Eindruck nach dem rasanten User-Zuwachs der letzten Tage zeigt, dass der Diskussionsstil kurzfristig mal etwas heftiger werden kann, die User-Moderation dann aber relativ schnell wirkt und die Wogen wieder glättet.
Natürlich können diese Moderations-Möglichkeiten auch dazu führen, dass sich weitgehend deckungsfreie soziale Bubbles bilden. Diese sind dann zwar alle auf Bluesky aktiv, hätten aber relativ wenig Kontakt untereinander. Das mag auf den ersten Blick befremdlich wirken, ähnelt aber schlussendlich der Diskussionskultur im realen Leben: Auch da gibt es unterschiedliche Diskussionsräume, welche sich oft bewusst gegeneinander abgrenzen oder sich als Safe Space verstehen. Die Bluesky-Tools ermöglichen den Benutzern, dies auch auf einer Social Media-Plattform zu realisieren.
User-Experience
Neben den Moderations-Möglichkeiten geht Bluesky auch in der User Experience neue Wege.
Im Vordergrund steht hier natürlich der Verzicht auf zentrale Algorithmen zur Auswahl von «interessanten» Posts. Stattdessen kann sich jede Benutzerin vordefinierte Feeds abonnieren oder auf Basis von Account-Listen selber erstellen. Es gibt zum Beispiel Feeds für die Posts aller gefolgten Accounts, für die Post aller «mutual» Accounts (also aller Accounts, denen ich und die mir folgen), aber auch Feeds für Posts, welche bei Followern beliebt sind oder welche nur Posts von Fotografen enthalten. Wer frisch von X wechselt, stellt relativ schnell fest, dass ohne Algorithmus mehr Aufwand nötig ist, um sich Reichweite zu schaffen. Dies trägt sicher dazu bei, dass bei Neulingen ein «hier ist nix los»-Eindruck entsteht. Los ist allerdings durchaus etwas, nur muss man dazu sein Verhalten wie auch seine Erwartungen an die geänderten Spielregeln anpassen.
Dem Problem, dass Neulinge auf der Plattform zuerst einmal Accounts finden müssen, denen es sich zu folgen lohnt, wird mit Starter Packs abgeholfen. Das sind von Benutzern kuratierte Account-Listen zu einem beliebigen Thema, über die man den enthaltenen Accounts mit einem Klick folgen kann. Es gibt bereits über 150’000 davon, da dürfte für jede Interessenlage Interessantes dabei sein. Hilfreich sind diese Starter Packs auch für Benutzerinnen, welche bereits länger auf Bluesky unterwegs sind: Als sich letzte Woche abzeichnete, dass der Machtwechsel in Syrien kurz bevorsteht, entstanden schnell mehrere Starter Packs mit Accounts, welche aus und über Syrien berichteten. Erstellen kann solche Starter Packs jeder, direkt in der Bluesky-App.
Neue Möglichkeiten hat Bluesky auch geschaffen, um Accounts zu verifizieren. Auf Twitter musste man für den «blauen Haken» einen ziemlich undurchsichtigen Verifikationsprozess durchlaufen, auf X wurde die User-Verifikation de facto abgeschafft. In Bluesky ist die Verifikation (ähnlich wie in Mastodon) mit dem Domain-Namen verknüpft. Konkret legt man dazu die ID (DID, die eindeutige Kennung) des eigenen Accounts an einem vorab definierten Ort auf dem eigenen, unabhängig von Bluesky operierenden Webserver (zum Beispiel coolstuff.org
) ab, und ändert dann den Namen des eigenen Bluesky-Accounts auf seine Domain (aus dem Benutzer-Namen @coolstuff.bsky.social
wird so also @coolstuff.org
). Naheliegenderweise bedingt dies, dass man eine eigene Domain hat, aber bei Unternehmen, Organisationen, Promis und sonstigen Personen des öffentlichen Lebens (wo das Fake Account-Risiko hoch ist) kann man das voraussetzen. An einer Lösung für User ohne eigene Domains wird laut Bluesky noch gearbeitet.
Und, was vermutlich den wenigsten auffällt, weil es so unauffällig ist: Bluesky ist eine der wenigen Social Media-Apps auf dem Smartphone, welche keinen Zugriff auf die Kontakte-Sammlung fordern. So wird man wenigstens an dieser Stelle davor bewahrt, mehr oder weniger unbewusst persönliche Daten Dritter preiszugeben und streng genommen gegen das Datenschutzgesetz zu verstossen.
Missbrauchspotential
Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die schlussendlich allen zur Verfügung stehenden Funktionen und Moderations-Tools auch Missbrauch erlauben. Und auch wenn das bis vor einigen Wochen eher ein Randthema hat, hat dieser Missbrauch mit der steigenden Relevanz der Plattform deutlich zugenommen:
- Blocklisten nutzt man typischerweise, wenn man eine ganze Reihe von Accounts zu einem Thema (etwa Accounts welche NFTs anpreisen) unbesehen aus der eigenen Timeline verbannen möchte. Wie oben erwähnt ist es eine Eigenschaft von Blocklisten, dass sie durch den Ersteller jederzeit erweitert/geändert werden können. Das kann dann zum Beispiel dazu führen, dass ein böswilliger Ersteller von Blocklisten seine «Weg mit NFT»-Blockliste mit der Zeit um Accounts ergänzt, welche NFTs gegenüber kritisch eingestellt sind. Auf diese Weise verschwinden auch kritische Posts aus der Timeline, ohne dass man das direkt bemerkt. Schliesslich kontrolliert kaum jemand seine Blocklisten regelmässig (und es gibt auch keinen Änderungsnachweis). Es empfiehlt sich daher, nur Blocklisten von Accounts zu nutzen, denen man vertraut (oder anstelle von ganzen Listen den Aufwand auf sich zu nehmen, die darin enthaltenen Accounts einzeln zu blockieren)
- Starter-Packs sind ein hervorragendes Mittel, um schnell und auf Basis einer kuratierten Liste einer ganzen Reihe von Accounts zu einem Thema zu folgen. Dieselbe Funktion kann aber auch dazu genutzt werden, ein Starter-Pack mit NFT-Kritikerinnen zu erstellen und dieses dann unter NFT-Freaks zu verteilen, um gezielt NFT-kritische Posts zu finden und zu kommentieren. Oder eine Liste von Accounts zu erstellen, welche dann von einer Gruppe von Fake-Accounts gezielt angegriffen werden. Natürlich sind diese Arten von Störaktionen auch ohne Starter-Packs möglich, diese machen es schlicht deutlich einfacher. Und da man nicht wissen kann, in welchen Starter-Packs man enthalten ist, und keine Möglichkeit hat, sich aus einem zu löschen, gibt es zurzeit keine direkte Möglichkeit, sich zu wehren.
- Der Bluesky-Relay enthält alle Posts aller Accounts, und kann grundsätzlich (entsprechende technische Skills und Investments vorausgesetzt) von jedem gelesen werden. Da kann sich ein Angreifer dann auch einen Automatismus schreiben, mit dem er Posts zu bestimmten Themen erkennt und automatisch kommentiert. Und auch wenn so etwas vermutlich schnell blockiert würde, könnte es zu einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Bluesky und solchen Angreifern führen. Ein Spiel, welches schnell mal dazu führen kann, dass kritische oder exponierte Stimmen lieber verstummen, als sich dem Stress weiter auszusetzen.
- Die Möglichkeit, Accounts als Echtheits-Verifikation mit der eigenen Domain zu verknüpfen, schützt nicht davor, ähnlich klingenden Fake-Domains auf den Leim zu gehen. Wer also einen unglaublich grossen Geldgewinn von einem Benutzer mit Namen
@swislos.ch
in Aussicht gestellt bekommt, tut gut daran, den Benutzer-Namen sorgfältig zu lesen.
Daneben gibt es auch konkrete Anzeichen dafür, dass Desinformations-Netzwerke versuchen, in Bluesky eine unauffällige Präsenz mit entsprechender Verbreitung zu erreichen. Diese Präsenz lässt sich dann anschliessend, wenn man weitestgehend als «normales» Account wahrgenommen wird, zur Verteilung von Desinformation nutzen. Den Mechanismus dazu hat Mimikama im Detail beschrieben. Und wer sich jetzt fragt: warum gerade Deutschland? Bald sind Bundestagswahlen!
Es mag vielleicht etwas hart wirken, an dieser Stelle auf Hey Elon: Let Me Help You Speed Run The Content Moderation Learning Curve zu verlinken. Dieser Artikel von Mike Masnick (der heute im Board von Bluesky sitzt) bezog sich auf X/Twitter und die Änderungen in der X/Twitter-Moderation nach Musks Kauf der Plattform. Aber auch wenn Bluesky bezüglich Content Moderation vieles besser macht (und einige der im Artikel aufgeführten Probleme durch die Benutzer selbst gelöst werden können): Jeder Ausbau der Moderations-Tools führt auch zu einer Erweiterung der Missbrauchsmöglichkeiten. Den Beweis, ob Bluesky im daraus resultierenden Katz-und-Maus-Spiel die Oberhand behält, muss die Plattform erst noch antreten.
Ownership & Finanzierung
Entstanden aus einer Arbeitsgruppe innerhalb Twitter, ist Bluesky seit Februar 2022 ein gemeinnütziges Unternehmen (gemeinnützige Unternehmen sind in USA Unternehmen, welche gemäss den eigenen Geschäftsregeln nicht ausschliesslich finanzielle Ziele verfolgen und welche in dieser Form staatlich anerkannt sind). Die Unternehmensanteile sind im Besitz von CEO Jay Gruber und dem Bluesky-Team. Sämtliche Unterlagen zu ATProto und der Source Code für die meisten Komponenten sind auf Github zu finden und stehen unter einer Open Source-Lizenz.
Die gemeinnützige Ausrichtung des Unternehmens ändert aber nichts daran, dass die technische Bluesky-Infrastruktur viel Geld kostet, und auch Mitarbeiter selten ohne Einkommen bleiben wollen. Wie bei jeder breit genutzten Plattform stellt sich daher früher oder später die Frage nach der Finanzierung, Bluesky stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Bisher erfolgt die Finanzierung rein über Venture Capital, aber das dürfte zwangsläufig auslaufen. Und spätestens dann dürften die Kapitalgeber gerne eine Rendite sehen wollen, und Bluesky an sich müsste in die Lage kommen, sich selbst zu finanzieren.
Ursprünglich wurde Bluesky 2019 vom damaligen Twitter-CEO Jack Dorsey angekündigt, mit der Absicht, eine neue Basis für Social Media-Netzwerke zu schaffen, welche Usern mehr Einfluss auf die Inhalte geben. Bis dato hat sich Bluesky ausschliesslich eine Anschubfinanzierung des damaligen Twitter-CEOs von 13 Millionen Dollar erhalten und sich zusätzlich über Venture Capital finanziert, zuletzt mit einer Tranche von 15 Millionen Dollar. Diese wurde massgeblich vom Blockchain-VC Blockchain Capital (gemäss Webseite «Proud partners to 100+ companies in the crypto industry, across every stage and sub-sector») finanziert. Und auch wenn diese in einer Pressemitteilung betonten, dass es ihnen um die Vision und die Community geht, ist die Frage wohl berechtigt, welchen Mehrwert sie sich im Laufe der Zeit erhoffen.
Und damit stellt sich die Frage, wie Bluesky mittelfristig Geld verdienen möchte. Erste Versuche wie die Möglichkeit, eine Domain für den eigenen Account über Bluesky zu kaufen, dürften kaum genügend Geld in die Kasse spielen. In einem Wired-Interview im Februar 2024 wurde Bluesky-CEO Jay Gruber gefragt, wie sie sich die zukünftige Finanzierung vorstellt. Ihre Antworten waren allerdings nur beschränkt aussagekräftig und lassen offen, wie das konkret aussehen soll. Auf die Frage nach Werbefinanzierung antwortete sie
There will always be free options, and we can’t enshittify the network with ads. This is where federation comes in. The fact that anyone can self-host and anyone can build on the software means that we’ll never be able to degrade the user experience in a way where people want to leave.
Mit Enshittification wird das Muster bezeichnet, bei dem die Qualität von Online-Produkten und -Diensten abnimmt. Zunächst erstellen Anbieter qualitativ hochwertige Angebote, um Benutzer anzulocken, dann degradieren sie diese Angebote, um Geschäftskunden besser zu bedienen, und schliesslich degradieren sie ihre Dienstleistungen für Benutzer und Geschäftskunden, um die Gewinne für die Aktionäre zu maximieren. Der Begriff wurde von Cory Doctorow geprägt und hat unterdessen weite Verbreitung gefunden.
Sie lässt die Möglichkeit von Werbung auf der Plattform offen, sieht deren Effekt aber relativ beschränkt, da User ja viele Wege haben, um Werbung auszuweichen.
Etwas konkreter liest es sich in der Ankündigung der Finanzierungsrunde vom Oktober 2024:
we will begin developing a subscription model for features like higher quality video uploads or profile customizations like colors and avatar frames. Bluesky will always be free to use — we believe that information and conversation should be easily accessible, not locked down. We won’t uprank accounts simply because they’re subscribing to a paid tier.
Additionally, we’re proud of our vibrant community of creators, including artists, writers, developers, and more, and we want to establish a voluntary monetization path for them as well. Part of our plan includes building payment services for people to support their favorite creators and projects.
Bluesky plant also die Einführung von Abos für die Personalisierung von Accounts oder die Möglichkeit, Videos in höherer Qualität hochzuladend. Der Text betont aber auch die Absicht, die Bluesky-Nutzung allen kostenlos zu ermöglichen, und zahlende Accounts bezüglich Verbreitung nicht zu favorisieren.
Dass Werbefinanzierung nicht völlig vom Tisch ist, zeigt ein aktueller Techcrunch-Artikel. Darin erwähnt Jay Graber zum Beispiel die Möglichkeit, Werbung in den Such-Ergebnissen einzublenden oder an anderen Stellen, welche die User Experience nicht benachteiligen. Ebenfalls in Betracht gezogen wird die Lizenzierung von ATProto (dem unterliegenden technischen Protokoll) an andere Social Media-Plattformen (auch wenn hierzu momentan keine Nachfrage existiert). Einen Einblick in aktuelle Ideen zur Generierung von Einnahmen zeigen auch Interface-Entwürfe, welche letzte Woche ins Code-Repository der Bluesky-App eingecheckt wurden. Diese decken sich stark mit den oben bereits erwähnten Abo-Funktionen für Personalisierung und höhere Video-Qualität. Keine Option ist es für Graber, die Bluesky-Posts gegen Geld an AI-Unternehmen abzugeben.
Auch wenn die Unternehmensstruktur einen gewissen Schutz vor kommerziell motivierten Übernahmen bietet, und die Veröffentlichung von ATProto und Source Code den Nutzen einer Übernahme reduziert: Am Ende des Tages muss Bluesky genügend Geld verdienen, um Betrieb und Weiterentwicklung finanzieren zu können. Es ist daher nicht überraschend, dass allen guten Absichten zum Trotz das Thema Werbung wieder auf den Tisch gekommen ist. Eine Werbefinanzierung scheint für offene Social Media-Plattformen (sofern sie nicht wie das Fediverse auf Freiwilligen-Arbeit aufbauen wollen) weiterhin die einzige einigermassen erfolgsversprechende Option zu sein. Bisher war mit Werbung allerdings immer auch das Profiling und die defacto-Überwachung von Benutzern verbunden. Ob Bluesky hier einen anderen Weg einschlagen kann und will, ist noch unbekannt.
Fazit
Bluesky hat, sowohl mit ATProto als auch mit Bluesky-Netzwerk, bezüglich User Experience und Moderation vieles besser angepackt als etablierte Social Media-Netzwerke. Man fokussiert sich auf zentrale Moderations-Tätigkeiten und gibt den Benutzern eine ganze Reihe von Tools in die Hand, um die eigene Timeline frei von unerwünschten Inhalten zu halten. Dass das verhältnismässig zuverlässig funktioniert, hat sich während des starken Anstiegs der Account-Zahlen in den vergangenen Wochen gezeigt. Accounts, welche ihr auf X erlerntes Verhalten 1:1 auf Bluesky übertragen haben oder vielleicht einfach nur Unruhe stiften wollten, sorgen zwar jeweils kurz für Aufregung, liefen dann aber recht schnell ins Leere, weil sie stummgeschaltet oder blockiert wurden, und ohne algorithmische Verstärkung keine weitere Verbreitung fanden.
Spannend ist, dass viele dieser Neuerungen hinter den Kulissen stattfinden. Ein Twitter-Benutzer, der mit einer Zeitmaschine von 2016 nach 2024 springt und Bluesky startet, wird sich sofort zurechtfinden. Er sieht eine chronologische Timeline, er sieht vertraute Funktionen zu jedem Post und bekannte Interaktionsmöglichkeiten. Bluesky hat also beim Versuch, das aus User-Sicht bessere X (ehemals Twitter) zu sein, einiges richtig gemacht.
Ob das auch in Zukunft anhält, hängt nicht zuletzt von der mittel- und langfristigen Finanzierung ab, und ziemlich direkt auch von den Renditeerwartungen der aktuellen Geldgeber. Die aktuellen Finanzierungsideen sind vermutlich eher noch in der Brainstorming-Phase, konkret stehen primär Abo-/Premium-Modelle mit Zugang zu Zusatzfunktionen im Raum. Dass dies unter Umständen nicht ausreichen könnte, zeigt sich daran, dass auch die anfänglich eher verpönte Idee von Werbung auf der Plattform wieder auf dem Tisch liegt. Hier die richtige Balance zu finden, um einerseits das nötige Einkommen zu generieren und andererseits die Benutzer nicht durch limitierte Funktionen oder intensive Werbung zu vertreiben, dürfte kein einfaches Unterfangen sein.