Ach, wie schön war doch die Zeit, als wir uns noch an Cookies gestört haben. KI-Browser lassen frühere Datenschutzbedenken längst wie Kinderkram erscheinen, findet Kolumnist Reto Vogt.
Ich sitze öfter mit dem Laptop auf den Knien im Zug und arbeite, gucke Youtube-Videos, pflege mein Linkedin-Profil oder beantworte Mails. Weil es meine Mitreisenden nichts angeht, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, habe ich eine Privacyfolie aufs Gerät geklebt, die neugierige Blicke von Sitznachbar:innen abwehrt.
Obwohl diese Folien längst nicht so verbreitet sind, wie sie sollten, mögen es wohl die wenigsten Menschen, wenn ihnen jemand beim Browsen über die Schultern schaut. Und dabei durchaus sensitive Informationen wie Kontostände, Firmenbilanzen, Sitzungsprotokolle, Gesundheitsdaten oder Chatverläufe mit dem Ex erhascht.
Was aber, wenn der Schulterblick nicht mehr von aussen kommt, sondern von «innen»? Gegen KI-Browser wie Comet, Dia, Browser OS und neuerdings auch Atlas von ChatGPT nützen Privacyfolien nichts mehr, obwohl diese genauso neugierig sind wie der Sitznachbar im Zug. Mit einem Unterschied: Der Typ nebenan vergisst nach zwei Stationen, was er gesehen hat. Der KI-Browser protokolliert für immer: jeden Klick, jede Eingabe, jede besuchte Seite und alle angezeigten Inhalte.
Das Versprechen
Natürlich versprechen diese Browser viel. Und es klingt durchaus verheissungsvoll. Automatische Zusammenfassungen. Intelligente Suche. Aufgaben, die sich wie von selbst erledigen. Der Browser als persönlicher Assistent, der mitdenkt und vorausschaut, E-Mails beantwortet, Termine bucht, Taxis organisiert, … oder ganz einfach gesagt: Alles übernimmt, was wir selbst mühselig und anstrengend finden. Und das coole daran: All das kostet kein Geld. Win-win oder? Nein. Was die Browser stattdessen brauchen, um den Job erledigen zu können? Nichts weniger als Zugang zum Mailkonto, zum Kalender, zur Kreditkarte, zu den sozialen Medien – schlicht zum ganzen digitalen Leben.
Nur sind diese Browser keine persönlichen Assistent:innen aus Fleisch und Blut, die man fragen kann, weshalb sie den Arzttermin auf 14 Uhr gelegt, den teureren Flug gewählt oder die E-Mail an die nervige Kundin ein Spürchen zu giftig formuliert haben (und wegen Fehlern feuern kann man sie erst recht nicht). Sie sind undurchsichtige Systeme und treffen Entscheidungen, ohne sie zu erklären. Es ist nicht nachvollziehbar, was sie tun, und sie übernehmen keine Haftung, wenn etwas schiefgeht.
Jetzt kann man fragen (oder besser: für sich denken): Ja mei, was soll schon gross passieren? Weiss OpenAI halt meinen Kontostand, wo ich mein Geld ausgebe, mit wem ich worüber maile, wo ich zu Mittag esse und wen ich zuletzt gegooglet habe. Nun, Fakt ist: Alle KI-Firmen müssen irgendwann aufhören Geld zu verbrennen und beginnen, Geld zu verdienen. Die Chance bzw. die Gefahr (je nach Sichtweise) ist gross, dass sie das mit den gesammelten Daten tun werden. Erst kommt das Wachstum, dann die Monetarisierung. Und die passiert über Daten. Immer.
Die Realität
Wie könnte das aussehen? Es wird über personalisierte Werbung, wie wir sie heute kennen, hinausgehen. Der agentische Browser bucht dann den Restaurantbesuch bei der «richtigen» Pizzeria, kauft den «passenden» Turnschuh und schreibt die Mail an den «besten» Versicherer. Wer entscheidet, was richtig, passend und gut ist? Natürlich der Höchstbietende. Oder anders formuliert: KI-Browser werden nicht im Interesse ihrer Nutzer:innen handeln, sondern im Interesse ihrer Werbekunden.
Das ist kein Zynismus, das ist Kapitalismus. (Gewürzt mit etwas Internetgeschichte.)
Ich habe die Browser trotzdem ausprobiert. Comet, Dia und seit dieser Woche auch Atlas sind auf meinem Compi installiert. Alle habe ich ausprobiert (ohne einen einzigen Login zu verwenden) und alle sind gescheitert. Ohne Zugriff auf die persönlichsten Daten sind KI-Browser ganz gewöhnliche Browser ohne Mehrwert.
Gegen den Schulterblick von aussen hilft eine 15-Franken-Folie. Gegen den von innen hilft nur eines: Nicht mitmachen.


2 Antworten
Mein Laptop hat ein Privacy-Display, das ich auf Tastendruck aktivieren und deaktivieren kann.
Vor dem Model hatte ich auch so eine Folie. Die konnte ich rausziehen, wenn es hell sein musste oder mir gewollt jemand mit auf den Bildschirm schauen sollte. Der Nachteil beider Lösung ist halt, dass die Helligkeit massiv leidet; Text lesen oder schreiben geht.
Falls AI-Integration im Browser nicht schon beunruhigend genug ist: der nächste Schritt ist dann die umfassende Integration im OS (siehe zum Beispiel https://tech.slashdot.org/story/25/10/23/218215/openai-buys-ai-startup-that-built-interface-for-apple-computers).