Vogt am Freitag: Extremes Experiment

Albanien hat einen einjährigen Tiktok-Bann beschlossen. Auch in der Schweiz gibt’s ähnliche Ideen. Kolumnist Reto Vogt findet die Idee nicht nur schlecht. Also jene Albaniens.

In den USA ist Tiktok seit Ende Januar eigentlich verboten. Doch das entsprechende Gesetz wurde ausgesetzt – und jetzt zeichnet sich eine Lösung ab, die sicher nicht im Sinne des Erfinders ist: Bytedance, der chinesische Besitzer von Tiktok, müsste laut Gesetz das US-Geschäft abstossen, damit die App legal genutzt werden darf. Doch statt eines echten Verkaufs übernimmt Oracle eine Art Wächterrolle. Der US-Konzern soll sicherstellen, dass Tiktok «nicht nach Hause telefoniert» – oder technisch: dass keine Backdoor eingebaut ist. Der Algorithmus und die eigentliche Kontrolle über die Plattform bleiben jedoch unangetastet. Ein typisches Buebetrickli Trump’scher Art: Der Algorithmus bleibt unter chinesischer Kontrolle, hübsch zugedeckt mit einem technischen Feigenblatt.

Albanien geht einen Schritt weiter: Das Land hat diese Woche als Erstes in Europa Tiktok komplett verboten. Hauptgrund dafür ist laut der Regierung um Ministerpräsident Edi Rama der Mord an einem 14-jährigen Schüler, dem Auseinandersetzungen auf der Plattform vorausgegangen waren. Kritiker werfen der Regierung vor, weniger die Kinder und Jugendlichen schützen zu wollen, sondern vielmehr am Erhalt der eigenen politischen Macht interessiert zu sein – im Frühjahr sind Parlamentswahlen in Albanien. Das Verbot gilt vorerst für ein Jahr.

Wichtige Erkenntnisse möglich

Ich halte beide Begründungen für plausibel und ich mag mich auf keine Seite schlagen. Das temporäre Verbot hingegen finde ich spannend, allerdings unter einer Voraussetzung: Dass die Konsequenzen dieses Verbots gut dokumentiert und wissenschaftlich begleitet sind. Interessant sind zum Beispiel folgende Aspekte:

  • Hat das Verbot tatsächlich einen Einfluss auf Gewalt unter Jugendlichen? Gibt es messbare Rückgänge bei Auseinandersetzungen oder Mobbingfällen, die sich ursprünglich auf Tiktok abgespielt haben?
  • Wie wirkt sich das Verbot auf die politische Kommunikation aus? Wird der öffentliche Diskurs im Wahljahr eingeschränkt? 
  • Welche wirtschaftlichen und kulturellen Folgen hat das Verbot? Tiktok ist nicht nur eine Unterhaltungsplattform, sondern auch ein Marketing- und Wirtschaftsraum.
  • Führt das Verbot zu einer stärkeren staatlichen Kontrolle von Online-Plattformen? Ist es ein Präzedenzfall für weitergehende Einschränkungen von Social Media oder bleibt es bei dieser Massnahme?
  • Auf welche Plattformen ziehen die Jugendlichen um? Legen Instagram und Snapchat zu oder wohin verschieben sich die Debatten?
  • Umgehung des Verbots: Werden technische Wege, das Verbot zu umgehen, verbreitet genutzt? Falls ja, welche Konsequenzen hat das für die Regulierung digitaler Plattformen generell?
  • Langfristige Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit: Setzt das Verbot ein Muster für zukünftige Zensurentscheidungen? Werden auch andere Plattformen strenger kontrolliert?

All diese Fragen zeigen: Das Tiktok-Verbot in Albanien darf nicht nur ein nationaler Alleingang sein, sondern muss zu einem Testlauf für Europa werden. Denn wenn die Auswirkungen des Verbots von unabhängiger Seite ergebnisoffen analysiert werden, könnte der ganze Kontinent von den Ergebnissen profitieren. Denn viele Länder stehen vor ähnlichen Debatten über den Einfluss von Social Media auf Gesellschaft und Politik. Die Frage, ob ein Tiktok-Verbot ein sinnvoller Schutzmechanismus oder ein gefährliches Werkzeug zur Kontrolle der öffentlichen Meinung ist, könnte so zumindest fundierter beantwortet werden.

Politische statt wissenschaftliche Grundlage in der Schweiz

Zu diesen Ländern zählt auch die Schweiz. Hierzulande hat der Ständerat kürzlich beschlossen, den Bundesrat zu beauftragen, mögliche Massnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor den negativen Auswirkungen sozialer Medien zu prüfen. Konkret soll untersucht werden, ob ein Verbot des Zugangs zu Plattformen wie Tiktok und Instagram für unter 16-Jährige einen effektiven Beitrag zum Jugendschutz leisten kann.

Bemerkenswert finde ich am «Schweizer Weg» einerseits, dass der Ständerat das Verbot nur für Jugendliche fordert, was ich für Quatsch halte. Und andererseits fordert er keine unabhängige wissenschaftliche Studie, sondern lediglich eine Prüfung durch den Bundesrat. Das bedeutet in der Praxis, dass die Verwaltung eine Analyse erstellt, bestehende Erkenntnisse zusammenträgt und mögliche Massnahmen skizziert. Diese «Prüfung» ist also primär eine politische Abwägung und keine ergebnisoffene wissenschaftliche Untersuchung mit empirischen Daten, wie sie durch das zugegebenermassen extreme Experiment in Albanien möglich wäre. 

Debatte auf Faktenbasis statt moralischer Empörung

Ein Verbot von Social Media ist ein massiver Eingriff in die digitale Selbstbestimmung. Speziell dann, wenn es nur für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (die Jugendlichen!) gilt. Deshalb sollte ein Tiktok-Verbot (oder jeder andere Kanal) nicht leichtfertig beschlossen werden. Es braucht dafür mehr als eine vage politische Abwägung. Wer wirklich herausfinden will, ob ein solcher Bann Jugendliche wirklich schützt oder nur Symptome bekämpft, muss wissenschaftlich fundierte Daten sammeln und Debatten auf Basis von Fakten führen, nicht von moralischer Empörung.

Albanien könnte nun ein Experiment liefern, das in Europa einzigartig ist. Wenn die Erkenntnisse tatsächlich erhoben würden und ernst genommen und sachlich ausgewertet werden, könnte das ein wertvoller Beitrag zur Social-Media-Debatte sein – und auch der Schweiz helfen, nicht einfach auf den Zug der Verbotsrufe aufzuspringen, sondern eine echte Lösung zu finden.

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2 Antworten

  1. Das erinnert mich dann doch etwas an die „Killerspiel“-Debatte.

    Es wäre schön, aber ist ein Irrglaube, man könnte gesellschaftliche Probleme durch „die Wissenschaft“ lösen lassen, die „der Politik“ einfach sagen könne, was sie für Gesetze machen muss.

    Wie bei allen komplexen Problemen gilt:
    Es braucht wissenschaftliche Erkenntnissuche, aber es braucht auch eine gesellschaftliche Debatte und politische Entscheidfindungsprozesse.

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